Freitag, 22. Oktober 2010

Hingeschaut (15): Feministisch gestrickt

Um der Handlung eines Comics zu folgen, muss man einfach nur den Panels folgen. Wie einst Ariadne ihren roten Wollfaden für den geliebten Theseus auslegte, um ihn aus dem Labyrinth des Minotaurus zu führen, so ist man als Leser auf die Reihung der Panels angewiesen. Vom Autor auslegt, folgten wir der Handlung von Panel zu Panel, hoffentlich bis zum ersehnten Ausgang, der Befriedung der Leseerwartung. Manchmal kreuzen sich dabei die Fäden und auch die Handlungen, dann findet man sich in einem teuflischen Labyrinth wieder.

Das Panel der Woche ist diesmal gleich auf der ersten Seite in aller Offenheit versteckt. Es ist das zweite Panel des gesamten Comics und Teil der Exposition, die auch auf das Cover des Comics anspielt. Der Faden wird ausgelegt.

Das Panel hat eine rechteckige Form und erstreckt sich über die gesamte Seitenbreite. Die markanten Farben Schwarz und Rot dominieren. Gemeinsam mit einer Vielzahl von aufsteigenden grauen Linien erzeugen sie den Hintergrund des Panels. Was genau sehen wir da im Hintergrund?

Bei genauerem Hinsehen zeichnen sich die schwarzen Gebilde als Schornsteine ab und die grauen Linien als aufsteigende Rauchschwaden. Der Rauch alleine verrät schon die Handschrift des Comickünstlers, aber ich will nicht vorgreifen. Bleiben wir auf den Dächern zwischen diesem Sammelsurium von Schornsteinen. Es handelt sich offensichtlich um eine größere, dicht bevölkerte Stadt. Schnell wird deutlich, um welche europäische Metropole es sich handelt: Paris. Nahezu scherenschnittartig ragt zwischen den Schornsteinen das Wahrzeichen der Stadt hervor, der Eifelturm.


Zentraler als dieses Gebäude ist aber natürlich die grüngekleidete Frau, die sich förmlich in die Mitte des Panels drängt, aber entschuldigend und doppeldeutig verkündet: "Glauben Sie nur nicht, dass es mir Spaß macht, hier zu sein." Äußerst selbstbewusst, tritt die rothaarige Dame auf. Ihr Zeigefinger in braune Lederhandschuhe gepackt, unterstreicht ermahnend ihre Aussage. In der anderen Hand präsentiert sie kampfbereit ihren Regenschirm. Braune Mütze und grüner Mantel weisen auf ein Zeitalter vor dem unserem hin, um die Jahrhundertwende möglicherweise.

Die Zeichnungen in dem Panel, wie bereits bei der Darstellung der Rauchschwaden angedeutet, weisen auf eine wellenförmige Linienführung hin. Ergänzend dazu sehen wir, wie diese Linien, die von Ihr begrenzten Flächen, teilen. Es entstehen um die Linien starke Farbkontraste, wie die grauen Rauchschwaden, die sich vom blutenroten Himmel abheben, als wären sie nicht Teil derselben Natur. Allein der Kontrast und die Stärke der Linie deuten auf Hergés ligne claire hin, doch so klar, wie bei Tim und Struppi, ist diese Linie nicht.

Die Kombination von Szenerie, Protagonistin und Linienführung lässt als Künstler dieses Panels eigentlich nur einen zu: Jacques Tardi, Zeichner und Autor von Adeles ungewöhnliche Abenteuer (frz.: Les Aventures extraordinaires d'Adèle Blanc-Sec). Mit seiner wellenförmigen Linenführung hat der Künstler die noveau ligne claire begründet, die durch ihren kurvigen Verlauf neben der von Hergé begründeten Klarheit noch genug Raum für die Fantasie, das Abseitige, lässt. Werfen wir einen Blick auf die ganze Seite, um zu sehen, was Tardi für einen Faden spinnt.

Wird auf dem ersten Panel zunächst die Szenerie alleine vorgestellt - im Hintergrund sehen wir Sacré-Cœur - so steh Adele gleich im zweiten Panel im Zentrum, was laut ihrer Aussagen, nicht ihre Lieblingsposition ist. Dies verrät sie scheinbar dem Leser, denn sonst ist dort oben, über den Dächern Paris, niemand, außer ein paar schwarzen Katzen, und einem Perodacytlus. Dieser darf dort zwar nicht sein, macht aber dennoch Sinn, da er an einen Erzählfaden aus dem ersten Band der Reihe anknüpft. Die Fäden knüpfen aneinander an.

Das teuflische Labyrinth ist der zehnte und vorletzte Teil von Adeles ungewöhnliche Abenteuer. Tardi lässt in dem Band alle Fäden zusammenlaufen, was dazu führt, dass die Seiten mit Fußnoten, Hinweise auf vorherige Bände, übersät sind und so die Möglichkeit, des Abbiegens erlauben, eben wie in einem Labyrinth. Die Fäden verzweigen sich.

Die Verteilung der Geschlechterrollen hat sich in diesem Comic auf den Kopf gestellt. Tardi legt den Faden aus und sein weiblicher Protagonist, versucht dem Labyrinth zu entkommen. Eine Protagonist, die selbstbewusst das Labyrinth bereist ohne dabei auf ihre weiblichen Reize einsetzen zu müssen. Während die Feministin stets zwischen Links und Rechts wählen muss, um sich im Paris der Jahrhundertwende zurecht zu finden, ist für es für den Leser ein leichtes dem Erzählfaden anhand der Panels zu folgen. Ihr Faden ist nicht unser Faden.


Ich habe den Band bereits 2008 für Comicgate besprochen.

Obwohl die Verfilmung Adèle und das Geheimnis des Pharaos von Luc Besson ein breites Interesse beim Publikum generiert, war Kollege Thomas Kögel (Comicgate) nicht sonderlich überzeugt: "ein leidlich amüsanter, familientauglicher Abenteuerfilm", dem es nicht gelingen will den Charme von Tardis Zeichnungen einzufangen.

Abbildung: © Edition Moderne/Jacques Tardi

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