Donnerstag, 17. Juni 2010

Serie: Hingeschaut (1)

Um etwas mehr Stringenz in mein eigenes Blog zu bringen und gleichzeitig den Spielraum des Mediums, hiermit ist die digitale Freiheit gemeint, dabei nicht außen vor zu lassen, habe ich mir was Neues (aus dem Elfenbeintrum) überlegt. Eine neue Serie. Normalerweise geht es ja in der einen oder anderen Form um Comics, um Alben, um Serien oder um Sekundäres. Bei all diesen Artikeln, Rezensionen, Berichten geht es immer um den großen Rahmen, der alles zusammenhält: Der Comic.

Doch nur allzu oft fällt bei der ganz großen, scheinbar allumfassenden Betrachtung, die zwar angestrebt, aber dann doch nie möglich ist, etwas aus Rahmen. Beim einem Comic ist dies oft der Rahmen selbst, das einzelne Panel, das auf einer Seite neben seinen Brüdern in eine feste Reihe und ein Seitenlayout gepresst wird. Mein kleines Serienexperiment soll dem Abhilfe verschaffen. In Hingeschaut möchte ich mir die Zeit nehmen, um ein einzelnes Panel unter die Lupe zu nehmen, es zu analysieren und erst anschließen zu sehen, wie dieses Panel im Verhältnis zu dem davor und danach, drüber und drunter steht. Im Studium nennt hat man so etwas close reading.

Wie es sich für einen guten Comic gehört, so hat er Lücken zwischen den Panels. Genau aus diesem Grund soll auch meine Serie Lücken enthalten. Ich will nicht die komplette Bibliografie des Künstlers aufzeigen, den Plot nacherzählen oder gar eine ästhetische Wertung des Comics abgeben. Natürlich möchte ich nicht ausschließen, dass es das eine oder andere Mal passieren kann, wenn das einzelne Bild mit der Gesamtheit des Comics in Verbindung steht.

Für die erste Folge von Hingeschaut, der natürlich weitere, am besten in regelmäßigem Turnus, folgen sollen, habe ich ein wundervolles Panel in Bäche und Flüsse von Pascal Rabaté gefunden, das auf Deutsch im Reprodukt Verlag erschienen ist. Dort findet sich auf Seite 81 ein kleines Panel in der dritten Reihe, das zunächst neben den beiden großen Panels unterzugehen droht.

In diesem fünften Panel auf der Seite stellt sich die Szene wie folgt dar: Von der linken Hälfte des kleinen Panels dringt die Front eines grünen Mittelklassewagens ins Bild ein. Gerade soweit, dass man Windschutzscheibe und Insassen nicht sehen kann. Die einzige Bewegung, die man am Wagen erkennen kann, ist die aufspringende Motorhaube. Ansonsten macht er keine Anstalten die Handlung auf diesem Panel direkt zu beeinflussen.

In der rechten Bildhälfte sehen wir ein kleines rotes Auto. Obwohl das Fabrikat des Wagens nicht zu erkennen ist, wird dieser Typus von Auto vorzugsweise in Frankreich gekauft. Es ist so klein, dass nur eine Person darin Platz findet und so groß, das man damit problemlos durch die Gänge der gigantischen französischen Super-Supermärkte fahren könnte. Kurzum, es handelt sich um ein Renterauto.

Während die grüne gänzlich anonyme Karosserie sich durch ihre Statik im Panel breit macht, zeichnet sich der Kleinwagen durch eine unglaubliche Dynamik aus. Er verliert komplett die Bodenhaftung, was durch den unterlegten Schatten auf dem texturlosen Asphalt deutlich gemacht wird, und wird wie eine Coladose durch die Luft geschleudert. Die Scheiben zersplittern, ein Reifen windet sich um die eigene Achse und die Tür wird eingequetscht. Die einzigen Hinweise auf die Einwirkung von kinetischen Energien, die die beiden Autos in diesem einen Panel verbinden, sind zwei kleine Speedlines, die wie Schallwellen von dem grünen Wagen ausgehen.

Natürlich gewinnt das Panel erst durch seinen Vorgänger und seinen Nachfolger in der Sequenz sein erzählerisches Potential. Erst durch sie wird Bewegung evoziert. Die oben beschriebenen Informationen, die immanente Spannung in dem einzelnen Bild zwingt förmlich dazu die anderen Panels anzusehen. Doch gerade dieser eingeschränkte Blick eröffnet die ganze Vielfalt der Sprache des Comics. Natürlich prallen hier zwei Wagen in voller Fahrt aufeinander, doch das wird nicht bildlich dargestellt.

Die Handlung wird komprimiert, zusammengepresst, wie das rote Renterauto selbst. Es wird verdichtet. Diese Verdichtung findet auf zwei Ebenen statt. Zum einen auf der Ebene der Panelsequenz, spricht der immanenten Handlung. Zum anderen steht eben dieses Panel in Verbindung zur gesamten Geschichte. Um die erste Ebene besser zu verstehen, muss man sich die ganze Seite, aber vor allem die beiden vorangegangen Panels ansehen.

Die Seite eröffnet mit einer nachmittäglichen Autofahrt des Protagonisten, der singend mit seinem Kleinwagen durch die Lande fährt. Ein Bild der Glückseeligkeit, das auf einem breiten Panel ausgedehnt wird. Die Sprechblasen, oder besser Singblasen, fangen dieses Gefühl ein, verstärken es, führen aber auch an das herannahende Unheil im dritten Panel heran: "Wir fahr'n im grünen Unterseeboot...". Die Kollision steht bereits dort unausweichlich bevor. Das vierte Panel sammelt noch ein letztes Mal alle Energie vor dem Aufprall zusammen und wird durch den Song ein weiteres Mal ironisch unterstrichen: "Wie im Traum...?!".

Zusammenstoß.

Der Sprung von der zweiten in die dritte Panel-Reihe beinhaltet den großen Knall, die unausweichliche Konfrontation, die nicht bildlich dargestellt wird. Was gezeigt wird, ist die Transformation eines Autos in eine Cartoonfigur, die sich wie Wachs verdreht.

Die zweite Ebene in der dieses Panel verdichtet wird, beinhaltet die ganze Geschichte. Um das befreite Gefühl, das im ersten Panel auf Seite 81 herrscht, zu erzeugen, hat Rabaté eine 80 Seiten lange Handlung vorangestellt. Ein Handlung die das Leben nach dem Tod eines alternden Freundes porträtiert, das zunächst auswegslos und traurig erscheint. Das Gefühl älter zu werden, alt zu sein, die leisen Stunden der Einsamkeit. Rabaté hat sich in seinem Comic viel Zeit genommen um diese Emotionen zu entfalten. Die Abfolgen der Panels sind diesem Prozess angemessen: Keine schnellen Wechsel der Perspektive und keine großen Sprünge zwischen den Panels. Als Leser fühle ich mich zu Empathie eingeladen. Stück für Stück macht das Leben des Protagonisten wieder Sinn, es gibt wieder Hoffnung. Und dann kommt Panel 5 auf Seite 81.

In nur einem kleinen Panel bricht diese schöne neue Welt in sich zusammen. Die Hoffnung wird in ein kleines rot bemaltes Tetrapack gesteckt und dann förmlich zusammengepresst und weg geschleudert. Obwohl man den Zusammenstoß der zwei Autos nur halb sieht und die Personen in den Autos fast zur Unkenntlichkeit verschwimmen, so symbolisiert dieses einzelne Panel, das Ende der Geschichte. Jäh reißt mich dieser Moment aus dem wohligen Gefühl, der "Traum...?!", den ich seit nur mehr 80 Seiten mit dem Protagonisten mitträume. Anschließend wir das Tetrapack auf den nachfolgenden Panels wie ein lebloses Stück Pappe weggeschleudert.

Das Ende der Geschichte ist für den Moment, für das genaue Hinschauen, nebensächlich geworden und ich werde es deshalb auch nicht verraten. Was mir an diesem Panel wichtig erscheint, ist die Tatsache, dass alle Emotionen auf ein Bild komprimiert, verdichtet, wird. Rabaté hat es geschafft so viel Spannung, so viel Gefühl in einem einzigen Moment freizusetzen, dass ich Panel 5 auf Seite 81 zu meinem Panel 2009 erkoren habe.

Abbildung: © Pascal Rabaté, Reprodukt Verlag

1 Kommentar:

Stephan Packard hat gesagt…

Was für eine schöne Idee! Ich freue mich jetzt schon auf die weitere Serie.